„Keine Sendung ohne eigenen Beitrag“ – Stefan Aust und seine Zeit bei „Panorama“

Die Sendung zählt zum Urgestein des deutschen Fernsehens. Viele Gesichter prägten „Panorama“, dessen Geschichte auch eine politische Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist. Als erstes politisches Magazin überhaupt ging das Magazin am 4. Juni 1961 auf Sendung. Seine Väter sind Rüdiger Proske und Gert von Paczensky. Nach Vorbild der gleichnamigen BBC-Sendung zogen sie „ihr“ Magazin auf und schwammen programmatisch gegen den Strom, wofür eine Anmoderation legendär wurde: „Nun wollen wir uns wieder ein wenig mit der Bundesregierung anlegen“. Unter den Redakteuren war einst auch einer der heutzutage bekanntesten Journalisten Deutschlands: Stefan Aust, der später zwölf Jahre lang Chefredakteur des Spiegels war und Herausgeber der „Welt“ und „Welt am Sonntag“ ist. Dr. Thomas Combrink erinnert an dessen Zeit bei „Panorama“.

Der 1946 in Stade geborene Journalist Stefan Aust war erstmals am 29. November 1965 in der Sendung „Panorama“ zu sehen. Es ging um die Frage der Pressefreiheit bei der Schülerzeitung „Wir“, für die er damals arbeitete. Für die Redaktion des Magazins „Panorama“ in der ARD war Aust von 1972 bis 1987 tätig. „Jede Sendung ohne einen Beitrag von mir, so hatte ich mir geschworen, ist eine verlorene Sendung“, schreibt er in seiner Autobiografie „Zeitreise“.[1] Sein erster Film wurde am 23. Oktober 1972 veröffentlicht. Damals begleitete er Rudolf Augstein, den Herausgeber und Gründer des „Spiegel“, der für die FDP bei der Bundestagswahl 1972 kandierte, in dessen Wahlkreise Paderborn und Rheda-Wiedenbrück. Der Herausgeber des Nachrichtenmagazins machte als Wahlkämpfer keine gute Figur. Einerseits fühlte Aust sich gegenüber Augstein verpflichtet, weil er ihn persönlich kannte, andererseits wollte er dem Fernsehpublikum interessantes Material bieten. Aust ahnte, dass die Veröffentlichung der Aufnahmen sein Verhältnis zu ihm trüben würde. Augstein sprach nach Ausstrahlung des Beitrags bis 1980 kein Wort mehr mit dem Journalisten vom NDR. Diese Dissonanz in der Beziehung der beiden ist aus heutiger Perspektive erstaunlich, weil Aust von 1988 bis 2008 für den „Spiegel“ gearbeitet hat. Zuerst leitete er die Fernsehabteilung, dann war er Chefredakteur der Zeitschrift.

Einige Beiträge, die er vor einem halben Jahrhundert gemacht hat, wirken überraschend aktuell, zum Beispiel „Zeitungskrise“ vom 8. April 1974, „Bauern auf Barrikaden“ vom 12. August 1974 oder auch „Lehrermangel – Lehrerschwemme“ vom 9. September 1974, in der sich unter anderem Peter Glotz in einem Interview darüber Gedanken macht, wie viele Abiturienten die Bundesrepublik Deutschland braucht. In dem Film „Briefmarkenpolitik mit Rosa Luxemburg“ vom 4. Februar 1974 wird die Angst und Abneigung mancher Deutscher vor dem Kommunismus deutlich; aus heutiger Perspektive wirkt diese Furcht kurios. „Der Fall Schmücker“ heißt ein Beitrag, der am 14. April 1975 gesendet wurde. Hier geht es um den Mord an Ulrich Schmücker, einem Mitglied der „Bewegung 2. Juni“, der am 5. Juni 1974 umgebracht wurde. Die Geschichte über den Tod des jungen Mannes und die Aufklärung der Straftat gehören zu den Lebensthemen von Aust. 1980 hat er das Buch „Kennwort 100 Blumen – Verwicklung des Verfassungsschutzes in den Mordfall Ulrich Schmücker“ veröffentlicht, auch bei „Spiegel TV“ ließ ihn das Thema nicht los und die Taschenbuchausgabe der „Zeitreise“ enthält zusätzliche Ausführungen über das Ereignis. In diesen Zusammenhang gehören ebenfalls die Beiträge, die Aust vor allem in den siebziger Jahren für „Panorama“ zur RAF gemacht hat. Ende der sechziger Jahre arbeitete er bei der Zeitschrift „konkret“, deren Chefredakteur Klaus Rainer Röhl mit der späteren Terroristin Ulrike Meinhof verheiratet war. So hatte Aust Kontakt zu Protagonisten der RAF. Die filmische Beschäftigung mit dem Linksterrorismus in Deutschland bei „Panorama“, aber auch in der Sendung „Brennpunkt“, führte dazu, dass er 1982 nach einem Ratschlag des Schriftstellers Thomas Brasch beim NDR auf eine halbe Stelle ging, um das Buch „Der Baader-Meinhof-Komplex“ zu schreiben, das 1985 veröffentlicht und 2008 von Uli Edel verfilmt wurde.

Der öffentliche Einfluss seiner Beiträge für die Sendung „Panorama“ am 4. Juli 1978 wird vor allem bei dem Film „Kriegsgerichte: Filbinger für Todesurteile mitverantwortlich“ deutlich. Stefan Aust fand heraus, dass Hans Filbinger, der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, während des Zweiten Weltkriegs als Marinerichter Todesurteile unterzeichnet hatte. Filbinger, der die Tatsache bestritten hatte, trat daraufhin am 7. August 1978 zurück. In eine ähnliche Richtung zielt der Beitrag „Tagebuch-Fälschungen“ vom 10. Mai 1983, in dem Aust zeigt, dass Konrad Kujau der Lieferant der fingierten Aufzeichnungen von Adolf Hitler ist. Ein Interview von Aust mit Kujau nach seiner Enttarnung als Fälscher im Gefängnis wird am 13. März 1984 bei „Panorama“ gesendet. Weitere Schwerpunkte in der Fernseharbeit liegen bei der Hausbesetzerszene in Berlin und den Demonstrationen gegen den Bau des Atomkraftwerks in Brokdorf. In dem Beitrag „Tödliche Häuserräumung in Berlin“ vom 29. September 1981 geht es unter anderem um dem achtzehnjährigen Hausbesetzer Klaus-Jürgen Rattay, der in einem Interview seine Nähe zu den Bewohnern der Gebäude erläutert. 48 Stunden später gerät er im Rahmen eines Polizeieinsatzes unter einen Bus. Eine Super-8-Kamera zeichnete den Vorfall auf – man kann die Leiche unter dem Rad des Fahrzeugs erkennen. Der letzte Beitrag von Stefan Aust für „Panorama“ wird am 28. April 1987 veröffentlicht: „La Belle – Bomben auf Tripolis“. Hier stehen der Anschlag auf die bei amerikanischen Soldaten beliebte Diskothek „La Belle“ in Berlin im Zentrum, verübt durch den lybischen Geheimdienst, und die Reaktionen der amerikanischen Regierung. Aust wendet sich schließlich dem privaten Fernsehen zu. Bereits im Oktober 1987 beginnt er mit den Vorbereitungen für „Spiegel TV“. Die erste Sendung läuft am 8. Mai 1988 auf RTL, moderiert von ihm selbst.

[1]  Stefan Aust: Zeitreise. Die Autobiografie. Piper Verlag: München 2021, S. 126.

Sendungsausschnitte und mehr zu Stefan Aust und „Panorama“ findet man hier: (Links):

https://daserste.ndr.de/panorama/50_jahre_panorama/Ein-Film-verschwindet-Stefan-Aust,panorama667.html
https://daserste.ndr.de/panorama/dossiers/60-Jahre-Panorama,panoramasechzig100.html
https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2001/40-Jahre-Panorama-Skandale-Affaeren-Enthuellungen,erste7624.html
https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/1984/Panorama-vom-13-Maerz-1984,panoramaarchiv1546.html
https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/erlebtegeschichten/stefan-aust-108.html

Mehr:
Historische Kommission der ARD – Übersichtsseite