Rede von Florian Hager zu 75 Jahren ARD
Vielen Dank, liebe Mitglieder des Senats, lieber Herr Bürgermeister Bovenschulte, für den herzlichen und festlichen Empfang an diesem ehrwürdigen Ort, wo alles begann mit der ARD.
Die ARD hat also 75. Geburtstag. 75 Jahre ist üblicherweise ein Alter, da stecken keine bunten Kerzen mehr auf der Torte, sondern ein Zahnstocher mit goldenen Papierzahlen im goldenen Ährenkranz. Und Gratulanten wünschen einem, man solle doch bitte genauso bleiben wie man ist.
Sie merken schon … So eher nicht.
Ich könnte jetzt, weil ich ja hier in meiner Rolle als ARD-Vorsitzender stehe, Ihnen etwas zur gesellschaftlichen Relevanz der ARD erzählen. Ich werde seit Amtsantritt nicht müde, das Gründungsversprechen der ARD zu wiederholen – und ich tue das aus voller Überzeugung, als erklärter Grundgesetzultra:
Sie haben eben daran erinnert, lieber Andreas Bovenschulte, dass die ARD ein entscheidendes Element für die Entwicklung unserer demokratischen Gesellschaft in Deutschland war, ein föderaler Gegenentwurf zum gleichgeschalteten Propagandafunk der Nationalsozialisten, ein stabilisierendes Element beim Aufbau der Bundesrepublik und danach auch bei der Wiedervereinigung.

Ich bin zuversichtlich, dass wir alle, die wir hier zusammen sind, um die Rolle der ARD für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wissen. Wir haben hier einen Schatz von enormem Wert. Wir sind als ARD unfassbar breit aufgestellt, durch unsere föderale Struktur, wir sind fest verwurzelt in den Regionen, wir müssen nicht erst zu den Leuten hinfahren, wenn etwas passiert, sondern wir sind schon da.
Unser Auftrag ist es ja, alle Menschen in Deutschland mit Programm zu versorgen, sie zu bilden, zu informieren und zu unterhalten. So steht das im Staatsvertrag. Und wir machen das auch – jeden Tag, 24 Stunden lang, seit 75 Jahren. Deshalb haben wir diesen riesigen Schatz an Geschichten und Erlebnissen, die die Menschen geprägt und bewegt haben. Ein Schatz, der stetig wächst.
Jeder von uns hat einen emotionalen Funken mit der ARD erlebt, irgendeinen Lagerfeuermoment – wenn nicht selbst, dann können wir alle einen solchen Moment aus unserem kollektiven Gedächtnis abrufen. Meine Großeltern haben vorm Röhrenfernseher die Mondlandung verfolgt. Meine Eltern waren bei Willy Brandts Kniefall im Warschauer Getto dabei – live am Küchenradio.
Ich erinnere mich noch gut an die bewegenden Bilder der Menschen, die sich an der durchbrochenen Mauer in den Armen lagen. Oder 9/11 – ich wette, Sie alle wissen noch genau, was sie damals gemacht haben, als 2001 die Flugzeuge in die Zwillingstürme geflogen sind.
Wir sind mit unseren Reporterinnen, Journalisten und Korrespondenten vor Ort, egal ob in Aalen, wo ich aufgewachsen bin, in Findorff, Borgfeld oder New York. Dieses Vor-Ort-Sein ist unser USP gegenüber großen international agierenden Playern – eine Schlüsselkompetenz, die wir klug nutzen können. Denn sie macht uns relevant: Die ARD erreicht mit ihrem Programm täglich einen Großteil der Menschen in Deutschland.
Und wenn man sich angesichts der täglichen Menge dystopischer Nachrichten fragen muss, ob die Welt gerade von einer hinterhältigen KI gesteuert wird, dann können wir auch mal gemeinsam abtauchen und befreiend lachen, mit Phil Laude, Carolin Kebekus und Dieter Nuhr und natürlich mit den Bremer Klassikern Hape Kerkeling, Rudi Carell oder dem unvergleichlichen Loriot.
Die Medienwelt hat sich verändert, ist differenzierter. Die Angebote haben sich verhundertfacht. Aber Zusammenhalt – die Gesellschaft zusammenhalten – ist und bleibt eine enorm wichtige Aufgabe für die ARD. Das geht nur mit Vertrauen. In einer Zeit, in der Social Media auf Hass und Spaltung setzt (und damit die Konzerne im Silicon Valley reich macht), zeigen die ARD und selbstverständlich auch das ZDF und das Deutschlandradio, dass uns mehr verbindet als trennt. Das macht Mut. Die Leute können darauf vertrauen, dass wir nicht berichten, um Geld zu verdienen – indem wir Algorithmen anheizen –, sondern dass wir das uns anvertraute Geld einsetzen, um verlässlich zu berichten. Das schafft Vertrauen. Das zeigen uns Umfragen immer wieder – egal, was manche Meinungskolumnen der Zeitungen hochjazzen.
Vertrauen ist der Faktor, der die Gesellschaft zusammenhält. Wir haben deshalb mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk einen wertvollen Schatz, den wir um alles in der Welt nicht nur bewahren, sondern für die nächsten Generationen verteidigen müssen. Ich glaube, das funktioniert mit den klugen Regeln des Grundgesetzes, mit Respekt vor unserem Auftrag, mit aufrichtigem unabhängigem Journalismus, mit einer Finanzierung, die uns das möglich macht.
Als Radio Bremen 1950 Gründungsmitglied der ARD wurde, erhielt der Sender aus einer amerikanischen Spende 1,76 Millionen D-Mark. Damals waren die USA also sichtlich interessiert daran, dass es in der jungen Bundesrepublik ein verlässliches und staatsfernes Mediensystem gab. Heute droht ein JD Vance, die USA werden uns im Krisenfall nicht mehr verteidigen, wenn wir versuchten, die Plattformen zu regulieren – und ein Marc Zuckerberg bezeichnet Fact-Checking als institutionalisierte Zensur. Diese amerikanische Spende damals ermöglichte, dass Radio Bremen sein Funkhaus bauen konnte. Und heute ist es sogar ein offizieller Ort der Demokratiegeschichte – Plaketten-geschmückt.
Lieber Herr Bovenschulte, Sie haben eben die bedarfsgerechte Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks angesprochen: Der Rundfunkbeitrag ist ein Lieblingselefant im Raum bei Veranstaltungen wie diesen, wo Politik, Gremien und ARD-Verantwortliche zusammensitzen. Und wenn der Elefant schon im Raum steht, dann schauen wir ihn uns doch mal an! Die ARD ist schließlich für’s Hinschauen gemacht, nicht für’s Wegschauen. Dazu würde ich Sie gern mal auf ein kleines Gedankenexperiment mitnehmen: Wenn ein Straßenbahnbetrieb oder eine Buslinie ein Jubiläum feiert, dann gibts oftmals zur Feier des Tages das Fahrt-Ticket „zum Preis von damals“ – als einmalige Geburtstagsaktion. Und nun verrate ich Ihnen etwas: Diese günstige Geburtstagsaktion läuft in der ARD seit Jahrzehnten. Klingt erstmal krass für Sie, kann ich mir denken. Aber ich will noch gleich eins draufsetzen: Der aktuelle Rundfunkbeitrag ist, inflationsbereinigt, so ziemlich exakt auf dem Niveau von 1963. Genau, 1963 – die Tagesschau berichtete da von der Ermordung Kennedys und der Ablösung von Kanzler Adenauer durch Ludwig Erhard.
Ich möchte Ihnen das sehr gern an einem Rechenbeispiel klar machen. Dabei beziehe ich mich auf den Vorsitzenden der KEF, Dr. Martin Detzel, also auf einen ausgewiesenen Finanzexperten. Martin Detzel hat kürzlich der Meinungsmache von der immer teureren ARD einfach mal Fakten und Zahlen entgegengesetzt. Er hat nachgerechnet – was ja Sinn und Zweck der KEF ist. Und zwar so: Das ZDF hat seinen Sendebetrieb am 1. April 1963 begonnen, ebenso wie die ARD in schwarz-weiß, Farbfernsehen gab es damals ja noch nicht. Zum Sendestart gab es beim ZDF täglich ca. fünf Stunden und 30 Minuten Programm, die ARD hatte ein bisschen mehr, aber auch irgendwann Sendeschluss. Sie erinnern sich an das berühmte Testbild. Dritte Programme gab es noch nicht. Zuschauer hatten also die Auswahl zwischen genau zwei Fernsehsendern, die stundenweise Programm gemacht haben. Die Rundfunkgebühr belief sich zu dieser Zeit auf 3,58 €/Monat (umgerechnet aus 7 D-Mark). Nach einfacher Hochrechnung mit den jährlichen Inflationsraten würde sich diese Monatsgebühr 2025 auf 18,61 €/Monat belaufen. Detzel schlussfolgert: Die wirtschaftliche Belastung der Beitragszahler entspricht also heute, nach mehr als 60 Jahren, einschließlich der Wiedervereinigung, nahezu unverändert der Situation von 1963. Zur Wahrheit gehört natürlich auch, dass durch das Mehr an Beitragszahlern in das Gesamtsystem erheblich mehr Geld geflossen ist. Aber überlegen Sie auch mal, was die Leute damals für diese Summe an Programm bekamen – und was ARD, ZDF und Deutschlandradio heute bieten. Ich sag es mal so: Wenn sich alle Preise und ihr Gegenwert in den vergangenen Jahrzehnten so entwickelt hätten wie der Rundfunkbeitrag, hätten wir vielleicht ein paar Probleme weniger in Deutschland. Das will ich Ihnen nur mal als spitzfindigen Gedanken mitgeben.
Wir stehen mitten im Sturm der nächsten Medienrevolution. Künstliche Intelligenz stellt uns vor komplett neue Herausforderungen. Das meint nicht nur, welches KI-Tool wir als Medienunternehmen wo und wie ethisch, journalistisch oder ökonomisch sinnvoll einsetzen. Sondern es meint, dass wir uns bewusst machen müssen, wie „Agenten“ oder „Antwortmaschinen“ die Gatekeeper-Rolle übernehmen. Und wie die Antwortmaschinen uns finden. Die tollsten Serien und die wertvollsten Beiträge sind wertlos, wenn sie keiner mehr entdeckt. Dafür müssen wir unsere Daten völlig anders strukturieren. Da sind wir dran. (…) Gleichzeitig muss es uns gelingen, dass die Antwort-Agenten uns nicht nur finden, sondern auch als verlässliche Quelle nennen, damit jede und jeder die Antworten für sich einordnen kann. Denn wir wollen nicht Meinungen beeinflussen, unsere Aufgabe ist es, Meinungsbildung möglich zu machen.
Demokratie ist nur so gut wie das Wissen der Leute, die wählen. Wir alle sind dafür verantwortlich, ob und wie Deutschland die enormen Herausforderungen der nächsten Jahre und Jahrzehnte bestehen wird. Dafür braucht es informierte Bürgerinnen und Bürger, die wohlüberlegte Wahlentscheidungen treffen, die sich nicht von Hassreden, Parolen und persönlicher Frustration leiten lassen, sondern abwägen und Fakten vergleichen, andere Perspektiven einnehmen und auch mal die Haltungen anderer gelten lassen können.
Denn das ist für mich der Knackpunkt und unser Job und unser Versprechen: Ich wünsche mir eine ARD, die nicht nur Information liefert, sondern sich auch um Austausch kümmert. Im echten Leben wie im Digitalen. Wir dürfen als Gesellschaft nicht das Miteinander-Reden runterfahren oder sogar einschlafen lassen. Deshalb gehört es für mich auch zu den Aufgaben der ARD, Räume zu schaffen, in denen die Menschen miteinander in Kontakt kommen. Im Digitalen und im Analogen. Vielleicht sogar: Je digitaler wir werden, desto mehr sollten wie in menschlichen Kontakt investieren. Wir müssen Debattenräume und Begegnungsorte schaffen, die Menschen zusammenbringen und ihnen gemeinsame Erfahrungen ermöglichen – und nicht ihre Einstellungen gegeneinander ausspielen.
In Deutschland haben wir – noch – eine funktionierende, vielfältige Medienlandschaft. Diese Medienvielfalt hat dazu beigetragen, dass sich unsere Demokratie in den letzten Jahrzehnten zu dem entwickeln konnte, was bis heute die Basis unserer Gesellschaft ist. Ich bin überzeugt: Es braucht das duale System mit beiden Säulen auch in Zukunft. Und wir als öffentlich-rechtliche Medien müssen den privatfinanzierten Medienunternehmen die Hand reichen, um unsere Zusammenarbeit neu zu beleben. Wenn uns das gelänge – im Schulterschluss mit den Gremien und der Medienpolitik – dann ist die ARD auch in den nächsten 75 Jahren relevant. (…) Vielen Dank!
Florian Hager, ARD-Vorsitzender und Intendant des Hessischen Rundfunks
Teaserbild: Florian Hager beim Senatsempfang.
(Bildquelle: Senatspressestelle Bremen)