Die Gründungsintendanten der ARD (v.l.n.r.) Friedrich Bischoff (Südwestfunk), Walter Geerdes (Radio Bremen), Eberhard Beckmann (Hessischer Rundfunk), Rudolf von Scholtz (Bayerischer Rundfunk), Fritz Eberhard (Süddeutscher Rundfunk) und Adolf Grimme (Nordwestdeutscher Rundfunk) (Foto: Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv / Urheber unbekannt)

„Die ARD hat sich dem dezentralen Föderalismus verschrieben“ – In Bremen wurde vor 75 Jahren die ARD gegründet

Ein Gespräch mit Prof. Dr. Peter von Rüden über die Gründung der ARD 

Von Simon Sax (Radio Bremen) 

1950, das Gründungsjahr der ARD: Was schrieben die westlichen Alliierten der deutschen Rundfunkordnung ins Stammbuch – und warum war ihre föderale Struktur keineswegs selbstverständlich? Prof. Dr. Peter von Rüden und Simon Sax blicken im Gespräch auf die Gründung der ARD und stellen sie in den Kontext der politischen und institutionellen Entwicklung der jungen Bundesrepublik.

Sax: Wir schreiben die Jahre 1949 und 1950. Deutschland ist befreit. Und liegt noch immer in Trümmern, materiell wie geistig-moralisch. Ein Lichtblick: Im Mai 1949 verabschiedet der Parlamentarische Rat das Grundgesetz für die Bundesrepublik. Artikel 5 garantiert auch die Rundfunkfreiheit. Nach der ersten Bundestagswahl im August 1949 stellen CDU/CSU, FDP und die rechtsgerichtete Deutsche Partei (DP) das Kabinett Adenauer I. 

Über allem schwingen Funkwellen: Zwischen 1945 und 1949 entstehen in den westlichen Besatzungszonen sechs unabhängige Rundfunkanstalten: der Nordwestdeutsche, der Bayerische, der Hessische und der Süddeutsche Rundfunk, der Südwestfunk und Radio Bremen… 

Prof. von Rüden: …die Gründungsanstalten der ARD. Briten und Franzosen verordneten mit dem Nordwestdeutschen Rundfunk und dem Südwestfunk zentralistische Anstalten – nach dem Vorbild der BBC. Die Amerikaner hingegen organisierten den Rundfunk auf dem Gesetzesweg dezentral: Jedes Land in ihrer Zone bekam eine eigene Anstalt. In den Vereinigten Staaten war nicht-kommerzieller Rundfunk traditionell regional organisiert. Es gab da die National Association of Educational Broadcasters – ein loser Zusammenschluss vor allem von Radiostationen der Colleges und Universitäten. 

Sax: Unter den westlichen Alliierten wandelte sich das Radio vom propagandistischen „Volksempfänger“ zum, wie es der Historiker Axel Schildt nennt, „Leitmedium des Wiederaufbaus“. Machte es einen Unterschied, ob die Rundfunklandschaft zentral oder dezentral organisiert war?

Prof. von Rüden: In der Tat. Zentralismus bedeutete gleich doppelte Schwierigkeiten. Nehmen Sie Nordrhein-Westfalen: ein Kunstland, von den Briten am Reißbrett entworfen, dort wurden unterschiedlichste Mentalitäten zusammengewürfelt. Wie sollte der noch größere NWDR ihnen ein mediales Zuhause geben? In der amerikanischen Zone war das einfacher: Dort orientierten sich die Grenzen der Bundesländer, zumindest näherungsweise, an historischen Vorbildern. Und jedes Land hatte eine eigene Anstalt, das erleichterte die „Integration der Gesellschaft“, wie es im öffentlich-rechtlichen Auftrag so schön heißt. 

Sax: Der NWDR musste sich also etwas ausdenken. 

Prof. von Rüden: Das tat er auch. Er regionalisierte. Ab 1950 sendete UKW West „Zwischen Rhein und Weser“. Damit wurden die Menschen dort erreicht, wo sie standen: sprachlich, kulturell und inhaltlich. Ich sage zugespitzt: Ohne die Regionalisierung im NWDR und die spätere Abspaltung des WDR hätte Nordrhein-Westfalen kaum eine eigene Landesidentität ausgebildet. 

Man kann das auch am Beispiel Oldenburgs beobachten: Die Eingliederung in das Land Niedersachsen stieß dort auf wenig Begeisterung. Die Oldenburger waren an ihre Eigenständigkeit gewöhnt. Der NWDR reagierte – mit einem Studio vor Ort. Das war nicht nur ein Programmstandort, sondern auch eine diplomatische Mission – ein Symbol der Sichtbarkeit und Anerkennung. Man wollte damit bewusst regionale Identität erhalten und politische Spannungen entschärfen. 

Sax: Föderalismus und Regionalisierung stehen also am Anfang des öffentlich-rechtlichen Erfolgs, zu dem auch ein weiteres Ansinnen der westlichen Alliierten beitrug. Sie wollten die deutsche Medienordnung unabhängig gestalten. So dekretierte etwa Lucius D. Clay, Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone, 1947: Es ist die grundlegende Politik der US-Militärregierung, daß die Kontrolle über die Mittel der öffentlichen Meinung, wie Presse und Rundfunk, verteilt und von der Beherrschung durch die Regierung freigehalten werden müssen. Diese Unabhängigkeit spiegelt sich bis heute u.a. in den plural besetzten Aufsichtsgremien. 

Prof. von Rüden: Genau. Föderale Struktur und Aufsicht spielten eine ganz entscheidende Rolle bei der Gründung der ARD. Blicken wir noch einmal auf das Werk des Parlamentarischen Rats: Gemäß dem Grundgesetz liegt die Kulturhoheit bis heute bei den Ländern – Rundfunkpolitik ist also Sache der Landesregierungen in München, Hamburg usw. So ganz eindeutig war das aber 1949/1950 noch nicht. Denn der Parlamentarische Rat hatte dem Bund die Gesetzgebungskompetenz für das Fernmeldewesen zugeschrieben. Und das führte zu einer heiklen Frage: War es für den Bund ein Einfallstor, Einfluss auf die Rundfunkordnung zu nehmen? Adenauer bejahte diese Frage. Er hat die von den westlichen Alliierten etablierte Rundfunkstruktur nie akzeptiert. Er betrachtete sie als Provisorium, das es zu korrigieren galt. Über den Rundfunkanstalten schwebte mit dem Kabinett Adenauer I ab September 1949 das Damoklesschwert eines Bundesrundfunkamts. Das konnte weder den Intendanten noch den Landespolitikern gefallen. Sie mussten das ernstnehmen: Denn das Bundesverfassungsgericht stellte erst 1961 klar, dass Rundfunk ein kulturelles Phänomen und damit Sache der Länder ist. 

Die Gründungsintendanten der ARD (v.l.n.r.) Friedrich Bischoff (Südwestfunk), Walter Geerdes (Radio Bremen), Eberhard Beckmann (Hessischer Rundfunk), Rudolf von Scholtz (Bayerischer Rundfunk), Fritz Eberhard (Süddeutscher Rundfunk) und Adolf Grimme (Nordwestdeutscher Rundfunk) (Foto: Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv / Urheber unbekannt)
Die Gründungsintendanten der ARD (v.l.n.r.) Friedrich Bischoff (Südwestfunk), Walter Geerdes (Radio Bremen), Eberhard Beckmann (Hessischer Rundfunk), Rudolf von Scholtz (Bayerischer Rundfunk), Fritz Eberhard (Süddeutscher Rundfunk) und Adolf Grimme (Nordwestdeutscher Rundfunk) (Foto: Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv / Urheber unbekannt)

Sax: Die Gründung der ARD im Juni 1950 war also ein Akt der Selbstbehauptung? 

Prof. von Rüden: Ganz eindeutig. Die Intendanten und die Landespolitiker, die auch in den Aufsichtsgremien saßen, hatten ein gemeinsames Interesse: Sie wollten den Status quo erhalten, sprich: die föderale Struktur. Fiel die föderale Rundfunkstruktur, wurde auch die föderale Länderordnung geschwächt. Vieles war damals noch im Fluss. Man darf nicht vergessen: Die föderale Ordnung der Bundesrepublik war noch nicht durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verfestigt. 

Kurios war das schon und zugleich ein großes Glück: Adenauer hatte sich im Parlamentarischen Rat selbst für die Kulturhoheit der Länder eingesetzt – aus Furcht vor einer SPD-geführten Bundesregierung. Wenigstens in den CDU-geführten Ländern wollten die Konservativen über Bildungsinhalte entscheiden. Wenig später, im August 1949, gewann Adenauer die Bundestagswahl – und fand sich in einer föderalen Ordnung wieder, die ihm nun Grenzen setzte: Der Bund konnte Rundfunkpolitik nur über das Fernmeldewesen machen. 

Sax: Vor dem Hintergrund der Bestrebungen des Bundes entfalteten die Anstalten dann rege Betriebsamkeit. Hans Bausch schildert in seinem Standardwerk Rundfunkpolitik nach 1945 das Ringen zwischen den Intendanten und ihren Aufsichtsgremien: So hatte der Verwaltungsratsvorsitzende des Hessischen Rundfunks, Hans Bredow – einst mächtiger Reichs-Rundfunk-Kommissar in der Weimarer Republik –, eigene Pläne. Bereits 1947 hatte er einen Vorschlag für eine „Gründung einer Arbeitsgemeinschaft Deutscher Rundfunk“ vorgelegt. Als Vorsitzender des HR-Verwaltungsrats bewegte er diese Idee weiter. Auf sein Betreiben hin kamen am 6. und 7. Dezember 1949 Aufsicht und Intendanten zu einer Tagung in Bad Neuenahr zusammen – Thema: das drohende Bundesrundfunkgesetz. Mit dem Zentralismus im Nacken sollte eine Arbeitsgemeinschaft entstehen, allerdings unter Führung der Aufsichtsgremien. Die Intendanten, immerhin die gesetzlichen Vertreter der Anstalten, weigerten sich. Zustände wie in der Weimarer Republik lehnten sie ab. 

Prof. von Rüden: Und das aus gutem Grund. Institutionell war der Rundfunk in der Weimarer Republik zu staatsnah eingebunden. Das erleichterte den Nationalsozialisten, ihn gleichzuschalten. Zugleich machten die Nazis Hans Bredow als Vertreter des Rundfunks der Weimarer Republik den Schauprozess. Im sogenannten „Reichs-Rundfunk-Prozess“ warf man ihm und anderen Korruption vor. Die Nationalsozialisten hassten den sogenannten „Systemrundfunk“ der ersten deutschen Demokratie. Wenn Bredow nach 1945 vor dem Zentralismus des Bundes warnte und zugleich einen abgemilderten Zentralismus eigener Art mit der Aufsicht an der Spitze anstrebte, sollte man ihm keine dunklen Motive unterstellen. Und dennoch: Die Intendanten der jungen Bundesrepublik waren, wenn man so will, die entschlossensten Anti-Zentralisten. 

Sax: Und am Ende einigte man sich: während der Tagung von Aufsicht und Intendanten in Bremen am 9. und 10. Juni 1950. Ergebnis: die „Vereinbarung über die Errichtung einer Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland“. In Paragraph 1, Absatz 2 heißt es dort: „Die Intendanten (Generaldirektor) vertreten ihre Rundfunkanstalten im Rahmen ihrer gesetzlichen Befugnisse.“ Damit war das Thema Führung geregelt. 

Ein Blick ins Sitzungsprotokoll offenbart Motive, die uns auch heute bekannt vorkommen mögen: „Die Rundfunkanstalten bekämen immer wieder zu hören“, dass sie es „nicht fertigbrächten, zu einem allgemeinen Programmaustausch zu gelangen“, heißt es da. Und an anderer Stelle: „In der Presse würde des Öfteren eine Senkung der Hörfunkgebühren gefordert.“ Letztlich ging es also auch um Effizienz? 

Prof. von Rüden: Selbstverständlich. Die ARD wurde auch gegründet, um gemeinsam zu erledigen, was sinnvollerweise gemeinsam erledigt werden kann und sollte: Verträge mit der GEMA, die Abstimmung von Tarifverträgen und Honorarrahmen, die Vertretung medienpolitischer Interessen, die Frequenzkoordination. Und dann natürlich Vorhaben, die für einzelne Anstalten schlicht zu teuer gewesen wären – etwa die Produktion von Fernsehprogramm oder die Entwicklung technischer Innovationen. Es ging darum, Doppelstrukturen zu vermeiden und Synergien zu schaffen. Aber unter föderalen Vorzeichen. Die Devise lautete: Alles, was wir zentral erledigen können, ohne die Selbstständigkeit des organisatorischen wie publizistischen Kerngeschäfts zu gefährden, machen wir lieber selbst, bevor der Bund es tut. Eine kluge Strategie, nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich in einer Zeit knapper Ressourcen. 

Sax: Heute steht die ARD wieder im Zentrum von Reformdebatten. Die einen fordern eine zehnte Anstalt, die alle Gemeinschaftseinrichtungen bündelt. Die anderen wollen eine gemeinsame Geschäftsführung im Verwaltungsbereich. 

Prof. von Rüden: In der Vergangenheit war es nötig, über Synergieeffekte nachzudenken – das gilt auch für die Zukunft. Ich halte aber wenig davon, eine neue Bürokratie aufzubauen. Spezialisierung und Bündelung bestimmter Aufgaben innerhalb der bestehenden Strukturen sollte die Alternative sein. 

Die ARD mit ihrem föderalen Aufbau und dem ausdifferenzierten Regionalangebot ist bis heute ein Stabilitätsanker unserer Demokratie. Wer verstehen will, warum diese Struktur so wertvoll ist, muss nur die großen Plattformbetreiber in den USA beobachten. Dort herrscht eine extrem hohe Machtkonzentration – die Konzentration einer Macht, die sich teils anbiedert, teils aktiv die Demokratie beschädigt. 

Die Struktur der ARD dagegen verteilt Macht: Eine einzelne Regierung kann sie nicht einfach umformen. Selbst in einem – zugegeben – dystopischen Szenario nicht, in dem die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine Rolle mehr spielte. Auch eine Selbstunterwerfung in vorauseilendem politischen Gehorsam ist nur schwer vorstellbar. Dafür müsste sich jede einzelne Intendantin, jeder einzelne Intendant anbiedern. Mit ihrer Gründung hat sich die ARD dem dezentralen Föderalismus verschrieben. Und dabei sollte es auch bleiben. 

Einen Einblick in die Gründungssatzung der ARD gibt es hier.

Prof. Dr. Peter von Rüden war u.a. Leiter des Adolf-Grimme-Instituts, in verschiedenen Positionen beim NDR tätig und leitete zuletzt die Forschungsstelle zur Geschichte des Rundfunks in Norddeutschland (Universität Hamburg). 

Simon Sax arbeitet als Referent der Intendanz von Radio Bremen; er ist Lehrbeauftragter und beratendes Mitglied am Zentrum für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung (ZeMKI) der Universität Bremen. 

Mehr:
„75 Jahre ARD“ – Eine Serie der „Historischen Kommission der ARD“