Amphibienfilme und Regionalfernsehen
Hans Jürgen Syberberg und der öffentlich-rechtliche Rundfunk
Hans Jürgen Syberberg wurde am 8. Dezember 1935 geboren und kam bereits früh mit den bewegten Bildern in Berührung. Sein Vater, der einen Gutshof besaß in Nossendorf im heutigen Mecklenburg-Vorpommern, hatte eine 8-mm-Kamera, mit der er Aufnahmen von seinem kleinen Sohn machte. Bilder davon sind zu sehen in Syberbergs Film „Demminer Gesänge“, der 2023 erschien. Als junger Mann fuhr er 1953 mit eigener Kamera von Rostock nach Berlin, um mit Bertolt Brechts Erlaubnis Theaterstücke des Berliner Ensembles aufzunehmen. Nach der Schulzeit in Petershagen bei Minden studierte Syberberg in München Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte. Er beendete diesen akademischen Abschnitt seines Lebens mit einer Doktorarbeit über den Dramatiker Friedrich Dürrenmatt.
Ab 1963 beginnt die Zusammenarbeit von Syberberg mit den öffentlich-rechtlichen Anstalten. Er arbeitet für das Fernsehen im Bayerischen Rundfunk, macht Beiträge für die Sendereihen „Münchner Abendschau“ und „Aktuelle Viertelstunde“. Schaut man sich die Aufstellung dieser Berichte an, die in der Zeit von 1963 bis 1967 entstehen, dann ergeben sich Anknüpfungen an frühere und spätere Schwerpunkte von Syberberg. So läuft am 16. Juni 1965 ein Interview von ihm mit Therese Giehse, die Mitglied im Berliner Ensemble von Bertolt Brecht war. Am 12. Februar 1965 wird ein Beitrag über Ludwig II. gesendet, der wie eine Vorstufe wirkt zu Syberbergs Spielfilm über den bayerischen König aus dem Jahr 1972.
Durch die kürzeren Berichte im Fernsehen ergeben sich Möglichkeiten, auch längere Arbeiten unterzubringen. So kann Syberberg im Bayerischen Rundfunk am 19. Juni 1965 einen fast zweistündigen Film mit dem Schauspieler und Theaterregisseur Fritz Kortner platzieren, bei dem es um die Inszenierung des Stückes „Kabale und Liebe“ von Friedrich Schiller geht. Diese Ausstrahlung wiederum macht Romy Schneider auf den jungen Filmemacher aufmerksam. Es folgt eine Anfrage von ihrer Seite an den Bayerischen Rundfunk mit dem Wunsch eines Fernsehporträts. Dabei hatte Syberberg bereits vorher Kontakt zu Harry Meyen. Ein kurzes Interview mit dem Schauspieler und Regisseur, der zu dem Zeitpunkt mit Romy Schneider noch nicht verheiratet war, wurde am 30. November 1964 gesendet. Bei dem Film mit ihr, der an drei Tagen Ende 1966 in Kitzbühl aufgenommen wurde, gab es vor allem am Schneidetisch Probleme. Statt der vereinbarten Stunde lieferte Syberberg neunzig Minuten ab. Nach der Kürzung intervenierte wiederum Harry Meyen, der Szenen entfernt und fremde Passagen eingebaut haben wollte. Da Syberberg Mitarbeiter des Bayerischen Rundfunks war, musste er die Änderungen akzeptieren; er zog aber seinen Namen zurück. „Romy – Portrait eines Gesichts“, der populärste Film des deutschen Regisseurs, wurde schließlich am 21. Januar 1967 mit einer Länge von 53 Minuten gesendet.
Die Fernseharbeit in den frühen sechziger Jahren bot für Syberberg einerseits die Möglichkeit, nach dem Studium Geld zu verdienen und andererseits, „mit Kamera, Licht, Schneidetischen, Tonstudios zu experimentieren, zu Themen des Tages und selbstgestellten größeren Aufgaben nach Art des Kalenders“. Er konnte dabei vor allem auch sein Faible für das Theater ausleben. Ein Interview mit Friedrich Dürrenmatt, das am 16. Februar 1966 gesendet wurde zu einer Aufführung des Stückes „Der Meteor“ in den Münchner Kammerspielen, führt Syberbergs Interesse aus seiner Dissertation fort. Für das bayerische Regionalfernsehen hat er einen Schwerpunkt bei den Theaterpremieren. Am 7. April 1965 läuft ein Beitrag von ihm über William Shakespeares „Der Sturm“ in der Regie von Hans Detlef Sierck, der in den USA als Douglas Sirk bekannt ist und dessen Melodramen für Rainer Werner Fassbinder wichtig waren. Die negativen Erfahrungen beim Bericht über Romy Schneider, wo Syberberg hilflos alle Änderungen ertragen musste, führen dazu, dass er seine eigene Firma gründet, um die ästhetische Kontrolle bei den längeren Filmen zu behalten.
Fortan entstehen Auftrags- und Koproduktionen mit den Fernsehsendern. Syberberg dreht „Amphibienfilme“, die sowohl im Kino laufen können als auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ausgestrahlt werden. (Der Ausdruck ist abgeleitet von Tieren, die im Wasser und an Land leben.) Reibungslos verläuft die Zusammenarbeit nicht. Der Bericht „Sex-Business – Made in Pasing“ von 1969 über den Erotikregisseur und Produzenten Alois Brummer wird mündlich vom ZDF in Auftrag gegeben, aber dort nicht gesendet, weil ein Anwalt der SPIO (Spitzenorganisation der Filmwirtschaft) in Syberbergs Arbeit zu Wort kommt. Die verantwortlichen Redakteure befürchten, dass sich eine Ausstrahlung negativ auf den Einkauf der Lizenzen für Spielfilme auswirkt. Gesendet wird der Beitrag schließlich im Bayerischen Rundfunk.
Im Rahmen des „Kleinen Fernsehspiels“ fördert das ZDF den Film „Ludwig – Requiem für einen jungfräulichen König“ von Syberberg, der 1972 fast zeitgleich mit Luchino Viscontis aufwendiger Arbeit über den Monarchen in die Kinos kommt. Der deutsche Regisseur beschäftigt sich auch danach mit dem Thema und dreht im Auftrag des Bayerischen Rundfunks einen Beitrag über Theodor Hierneis, der für Ludwig II. gekocht hat. Die historische Figur wird von dem Schauspieler Walter Sedlmayr verkörpert. Der bayerische König förderte den Musiker Richard Wagner, mit dessen Leben sich Syberberg in einer weiteren Auftragsproduktion vom Bayerischen Rundfunk beschäftigt. Dabei handelt es sich um ein langes Gespräch mit Winifred, der Schwiegertochter des Komponisten, die im „Dritten Reich“ die Bayreuther Festspiele leitete und auch im Interview mit Syberberg noch offen Sympathie für Hitler zeigt. Obwohl das Treffen mit ihr bereits 1975 stattfand, wurde der kontroverse Film im Fernsehen erst 1977 gesendet. Die Aufmerksamkeit, die Syberberg für seine Arbeit über Ludwig II. in Paris bekam, führte dazu, dass das französische Institut national de l’audiovisuel sich finanziell beteiligte an „Hitler – ein Film aus Deutschland“ von 1977, der eine Länge von fast sieben Stunden besaß. Die BBC und der WDR hatten den Film koproduziert, der am 3. Januar 1980 im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde.
Die Beschäftigung mit Richard Wagner gipfelt bei Syberberg in der filmischen Inszenierung der Oper „Parsifal“. Der Kinostart war am 17. Juni 1982. Der Bayerische Rundfunk sendete den Film als Koproduzent in mehreren Teilen erstmals 1984 im Fernsehen. Die Rolle der Kundry spielte in dieser Inszenierung Edith Clever, mit der Syberberg in den folgenden Jahren eng zusammenarbeitete. Dabei ging es vor allem um literarische Texte von Heinrich von Kleist, Arthur Schnitzler oder auch James Joyce, welche die Schauspielerin vortrug. Diese Monologe wurden vor allem vom ORF koproduziert. Seit einem Vierteljahrhundert beschäftigt sich Syberberg mit dem Gutshaus seines Vaters in Nossendorf, in dem er geboren wurde, dessen Enteignung er erlebte und das er nach der Wende erneut erwerben konnte. Täglich berichtet er auf seiner Homepage von den Ereignissen in der Gegend seiner Kindheit. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk, der Syberbergs filmische Arbeiten unter dem Titel „Demminer Gesänge“ in den letzten Jahren förderte, begleitet ihn weiterhin bei seiner Tätigkeit als Bildkünstler.
Thomas Combrink, Literaturwissenschaftler