Adolf Hitler am Mikrofon | Bildrechte: DRA / Ullmann

Heute wieder mehr als relevant: Hitler-Reden als kritische Audio-Edition

Neues Forschungsprojekt unter Beteiligung der Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv

Victor Klemperer, der die NS-Zeit als Jude in Deutschland überleben konnte, ist heute vor allem durch seine Tagebücher in Erinnerung. Früh befasste er sich aber auch wissenschaftlich mit dem Nationalsozialismus. In seinem Buch LTI (Lingua Tertii Imperii) beschrieb er die Sprache dieser Zeit als zentrales Mittel, mit der die nationalsozialistische Ideologie ihre Wirkung in der Gesellschaft entfalten konnte:

„[D]er Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über, durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang und die mechanisch und unbewußt übernommen wurden“,[1]schrieb Klemperer 1947

Gerade für Adolf Hitler, der zwischen 1933 und 1945 regelmäßig öffentlich als Redner in Erscheinung getreten ist, war Sprache ein zentrales Herrschaftsinstrument – das ist hinlänglich bekannt. In Gänze sind seine Reden aus dieser Zeitspanne aber bis heute nicht zugänglich gemacht und analysiert worden; und wenn sie zugänglich sind, dann oft „nur“ in Form schriftlicher Überlieferungen wie zeitgenössischen Abdrucken im „Völkischen Beobachter“ oder in Form von Editionen, die heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügen. Aspekte wie Sprachgeschwindigkeit, Artikulation und Intonation – aber auch Reaktionen der Zuhörer und Zuhörerinnen wie Jubel und Beifall – lassen sich aus den als Text überlieferten Reden außerdem nicht ablesen

Hitler | Bildrechte: DRA / Ullmann
Adolf Hitler vor einem Mikrofon der Funkstunde, vermutlich bei seiner ersten Rundfunkansprache am 01.02.1933. | Bildrechte: DRA / Ullmann

Durch ein neues, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziertes Editions-Projekt unter Leitung des Instituts für Zeitgeschichte, an dem auch das Deutsche Rundfunkarchiv, Stiftung von ARD und Deutschlandradio als Projektpartner, beteiligt ist, wird sich das nun ändern. Ziel des Projektes ist eine wissenschaftlich aufbereitete, kritische Edition aller heute bekannten und überlieferten Hitler-Reden aus dem Zeitraum 1933-1945 – und zwar in Form einer Text- und Audio-Edition.

Insgesamt hat Hitler in den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur gut 800 Reden gehalten – etwa 300 davon sind heute vollständig oder in Auszügen als Tondokumente erhalten. Das liegt daran, dass viele der Reden live im Radio übertragen und gleichzeitig für eine Archivierung, teilweise auch für eine Wiederverwendung im Rundfunk auf Schallplatten, mitgeschnitten wurden. Denn wie der Sprache als Herrschaftsinstrument kam zur damaligen Zeit dem Rundfunk als Propagandainstrument eine zentrale Bedeutung zu.

Diese Reden heute als Tondokumente wieder zugänglich zu machen, ist eine große Herausforderung. Zum einen aufgrund der materiellen Überlieferung. Sie besteht aus verschiedenen Schallplattenformaten, die zur damaligen Zeit in Gebrauch waren. Zu nennen sind hier in erster Linie Schellack-Platten, die aus zuvor in Wachs und Metall angefertigten Matrizen bzw. Schallplattennegativen gepresst wurden. Aber auch Decelith-Folien, die als direkte Mitschnitte produziert werden konnten und ebenfalls im Rundfunk eingesetzt wurden und Direktmitschnitte auf Schallplatten aus Gelatine oder Pappe kamen vor. Da diese Schallplatten in der Nachkriegszeit in viele Richtungen zerstreut und erst nachträglich wieder gesammelt wurden, ist ihr Zustand heute unterschiedlich. Einige weisen deutliche Schadensbilder auf. Neben der Überlieferung auf Schallplatte sind vor allem Tonbänder vorhanden, auf denen viele der Reden bereits in den 1950er Jahren gesichert werden konnten. Diese Tonbänder waren bereits Grundlage einer umfassenden Digitalisierung im DRA.

Die digitale Verfügbarmachung ist eine zweite Herausforderung. Zu klären ist zunächst, welche Reden erneut digitalisiert werden müssen, um den heutigen Ansprüchen einer Edition gerecht zu werden. Zum anderen soll nach weiteren Reden gesucht werden, die bisher nur als Text überliefert sind, aber ursprünglich auch auf Ton aufgezeichnet wurden. Aufgabe des DRA wird es dann sein, die neu hinzugekommenen Reden nach modernen technischen Standards zu digitalisieren und alle Tondokumente mit Werkzeugen zur digitalen Audiorestauration so zu bearbeiten, dass sie ihren Charakter als historische Tondokumente bewahren, aber zugleich für vielfältige wissenschaftliche Forschungen eingesetzt werden können. Gemeinsam mit den weiteren Projektpartnern, neben dem Institut für Zeitgeschichte München / Berlin sind das die Goethe-Universität Frankfurt am Main, die Philipps-Universität Marburg und das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim, soll so am Ende des Forschungsprojektes eine Edition verfügbar sein, mittels derer es möglich wird, die Reden Hitlers nach modernsten technischen Standards durchsuchen, auswerten und analysieren zu können.

Das ist nicht nur für das Verständnis unserer Geschichte bedeutsam. Denn wenn man heute davon ausgehen kann, dass Sprache ein zentrales Element zum Verständnis von Diktaturen ist, wie es Victor Klemperer 1947 in seiner Pionierarbeit herausgestellt hat, so stellt sich natürlich auch die Frage nach der Bedeutung des Projektes für die Gegenwart. Zu den wichtigen Fragen, die durch die kritische Edition der Hitler-Reden beantwortet werden sollen, gehört daher beispielsweise die nach dem Einfluss der Hitler-Reden in die aktuelle Gesellschaft – etwa durch die Übernahme von Worten und Redeweisen in den Sprachgebrauch heutiger Rechtspopulisten.

Götz Lachwitz ist Ansprechpartner für dieses Projekt bei der Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv.

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1Klemperer, Victor (2020) [1947]: LTI. Notizbuch eines Philologen. Stuttgart: Reclam, S. 25.

Weiterführende Links:
Gemeinsame Pressemitteilung aller Projektpartner auf der Website des DRA
Interview mit Projektleiter Magnus Brechtken vom Institut für Zeitgeschichte
Interview mit Projektleiter Magnus Brechtken vom Institut für Zeitgeschichte
Interview mit Henning Lobin vom Leibniz-Institut für Deutsche Sprache
Hitler erklärt Kriegsbeginn und Pakt mit Stalin
Hitlers erste Reichsautobahn: Spatenstich bei Frankfurt am Main
WDR5 Scala: Wissenschaftliche Aufbereitung der Hitler-Reden

Mehr:
Historische Kommission der ARD – Übersichtsseite