„Alles Propaganda“ – Wie Manipulation die Demokratie und die Medien gefährdet
Ein Gespräch mit Birand Bingül über seine Thesen und historischen Herleitungen
Der ehemalige ARD-Sprecher Birand Bingül hat mit seinem neuen Buch „Alles Propaganda!“ für mediales Aufsehen gesorgt und gleichzeitig intensive Diskussionen auch über die Rolle von Social Media sowie der linearen Medien im Umgang mit Propagandaparteien angestoßen. Die Redaktion des Newsletters der „Historischen Kommission“ hat mit ihm u.a. über seine Thesen, die historischen Wurzeln von Propaganda im Nationalsozialismus, über Konter-Strategien gegen Propaganda-Parteien und über die Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in diesem demokratiegefährdeten Umfeld gesprochen.
- Herr Bingül, Sie behaupten in Ihrem aktuellen Buch, Propaganda sei „das größte Ungeheuer der Gegenwart“! Worauf beziehen Sie dieses Urteil – auch auf Deutschland? Und wenn ja, auf wen und was?
Propagandaparteien sind auf dem Vormarsch. Gerade in Europa und Nordamerika. Sie haben unlautere Ziele. Sie wollen Menschen in eine Art Schwindel versetzen, damit diese an den großen Erlöser glauben und nur noch in Emotionen wie Wut, Angst und Hass unterwegs sind. Politik ist für sie Theater. Die liberale Demokratie ein Hindernis, das im Weg steht. Da können wir uns Trumps Republikaner ansehen, Ungarn, Polen, die Türkei, Frankreich mit dem Rassemblement National. Die AfD fällt in Deutschland in dieses Spektrum, ja.
- Sie waren noch vor nicht allzu langer Zeit ARD-Sprecher und für die Kommunikation des ARD-Vorsitzenden zuständig. Wie sind Sie da auf den Gedanken gekommen, ein Buch über Propaganda zu verfassen? In Zeiten, in denen den öffentlich-rechtlichen Sendern ja selbst „Propaganda“ und „Lügen“ von bestimmten Gruppen vorgeworfen wird!?
Mir war klar, dass die ARD von bestimmten Kreisen täglich aufs Korn genommen wird, speziell in Social Media. Das wollte ich genau verstehen. Deshalb habe ich bereits vor dem ARD-Vorsitz begonnen, mich mehr damit zu beschäftigen. Eine Recherche führte zur nächsten, ein Buch zum anderen, dann natürlich die Praxiserfahrung im Vorsitz. Irgendwann konnte ich feststellen: Ich erkenne die Blaupause, die bei allen Propagandaparteien dahintersteckt. Die folgen einem Masterplan. Ob in den USA, Ungarn, Türkei, Polen – oder eben Deutschland. Da erst kam die Idee, ein Buch darüber zu schreiben.
- Oder haben die Kritiker teilweise doch Recht mit ihren Vorwürfen gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk?
Wir müssen unterscheiden: Auf der einen Seite gibt es berechtigte Kritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Auf der anderen Seite gibt es Bestrebungen, den ÖRR aus strategischem Kalkül systematisch kaputt zu machen. Gezielt angegriffen werden auch Politiker, Gerichte und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Normmacher, Weltdeuter und Faktensammler – sie sind die natürlichen Feinde der Propaganda.
- Wie sehen die Gemeinsamkeiten von Propaganda-Parteien aus?
Ich habe vorhin schon den Masterplan erwähnt. Propagandaparteien platzieren sich außerhalb des Parteienspektrums – darüber oder daneben. Um dem Wahlvolk ihre Andersartigkeit zu beweisen, brechen sie Kommunikationsnormen der Politik. Sie sind sehr persönlich, sehr aggressiv und sie möchten den gesellschaftlichen Dialog, den Politiker immer verkörpern, im Keim ersticken. Sie nutzen Verschwörungsbehauptungen, in die Alltagsereignisse hineingedeutet werden. Ich habe das in meinem Buch “manipulative Umdeutungsrahmen” genannt. Ein Beispiel: Jahrelang wurde die Verschwörungsbehauptung der Umvolkung verbreitet, demnach wollen europäische Staatschefs die christliche Bevölkerung in Europa gegen eine muslimische austauschen. Lässt dann die Kanzlerin viele Flüchtlinge ins Land, sagt die Propagandaparteien: Ihr wisst, warum das wirklich passiert. Warum eine Muslimin in ein Staatsamt gewählt wird. Und so weiter. Es entsteht ein einziges Verwirrspiel um Lüge und Wahrheit. Propagandaparteien sind 24/7 im Angriffsmodus – speziell gegen Normmacher, Faktensammler und Weltdeuter. Dazu gehören auch die Journalisten. Bespielt wird das ganze über Social Media. Dort lässt sich nämlich ungezügeltes Massenverhalten auslösen, wie selbst Facebook festgestellt hat. Sprich: Hass schüren und blinde Gefolgschaft generieren. Diese Elemente stützen und verstärken sich gegenseitig. All das dient dazu, die Herzkammer der Demokratie zu vergiften. Den gesellschaftlichen Dialog, der Konsens herstellt.
- Woran erkennt man Propaganda? Ist die eine spezielle Variante von Populismus?
Die Propaganda der Gegenwart ist eine hoch effiziente, systematisch funktionierende Maschinerie. Erkennen wir mehrere oder alle Faktoren, die ich gerade für die Arbeit einer Propagandapartei genannt habe, haben wir es mit Propaganda zu tun. Propaganda kreist um die Beziehung zur Kommunikation mit der Wohnbevölkerung. Ein Politiker kann meiner Meinung nach durchaus populistisch handeln, ohne propagandistisch zu werden. Ein derber Stammtisch-Spruch macht noch längst keinen Propagandisten. Populismus ist eine Zutat von Propaganda. Das Phänomen auf Populismus zu verkürzen, macht uns gefährlich blind für das, was wirklich gespielt wird.
- Gibt es – in welcher Form auch immer – gemeinsame historische Wurzeln? Auch bei Begrifflichkeiten wie „Lügenpresse“ und „Verschwörungsbehauptungen“?
Da kommen wir an der Mutter der modernen Propaganda nicht vorbei – die Nazis haben Propaganda erschreckend ähnlich betrieben, nur mit den Mitteln von damals. Allerdings gehen die Historiker davon aus, dass die Nazis keinen Masterplan geschmiedet hatten, sondern intuitiv und situativ vorgegangen sind. Was funktionierte, wurde intensiviert. Mein Eindruck ist: Die Vordenker der Propagandaparteien haben die Nazis sehr genau studiert und deren Propagandastrategien ins 21. Jahrhundert überführt. Dazu gehört auch die Sprache. “Lügenpresse” ist bekanntermaßen ein Nazi-Begriff, mit dem Goebbels um sich geworfen hat. “Altparteien”, “Volksverräter” und “Marionetten” gehören auch dazu. Ebenso die Entmenschlichung von Feinden durch abwertende Tiervergleiche wie “Ratten”. Wer nicht mitmacht, ist ein “Schlafschaf”. Nicht zufällig stand auf NS-Standarten “Deutschland erwache”.
- Welche Ziele haben Propaganda-Parteien? Worum geht es wirklich?
Es geht ihnen um Macht um der Macht willen. Es ist auffällig, wie oft Propagandaparteien und ihre Anführer die Richtung wechseln. Sie suchen permanent etwas, das bei Wählerinnen und Wählern verfängt. Wenn sie es finden, schüren sie es mit allen Mitteln.
- Wird Propaganda, die viele lange Zeit diktatorischen oder autoritären Systemen zugeordnet haben, auf Dauer auch demokratische Systeme gefährden?
Sie tut es bereits jetzt! Sie unterhöhlt sie, weil Demokratie der Propaganda im Weg steht. Gerade in Europa und Nordamerika sehen wir das Phänomen in praktisch jedem Land. In Ungarn und in der Türkei lassen sich prätotalitäre Propagandaparteien ausmachen. Trumps Republikaner gehören in die Kategorie abgewählte prätotalitäre Propagandapartei. In Polen haben wir mit der PiS eine koalierende Propagandapartei. Die AfD war in ihrer Hochzeit oppositionell-wirksam, dann scheiternd als Rechtsaußen-Partei und derzeit ein Protestbecken. Alles ist dynamisch und beweglich.
- Warum glauben Sie, dass wir anfällig wie nie für Propaganda geworden sind – woran liegt das?
Da kommen Demokratiefrust und Propagandalust zusammen.
- Welche Rolle spielen Medien bei diesen Propaganda-Strategien – klassische, digitale, heutzutage Social Media?
Wenn sie können, greifen die Propagandaparteien gleich nach der Macht über die klassischen Medien, das haben wir in Ungarn und in der Türkei erlebt. Generell gesehen sind klassische Medien einerseits Ziel, andererseits adeln sie auch eigene Themen und Standpunkte. Daraus entsteht das Zwickmühle-Spiel, auf das Propagandaparteien spezialisiert sind. Werden sie in Talkshows eingeladen, beschweren sie sich lautstark über die Behandlung. Werden sie nicht eingeladen, sollen sie totgeschwiegen werden. Greifen klassische Medien ein Thema im Sinne der Propagandapartei auf, werden sie zitiert und ihre Seriosität genutzt. Tun sie es nicht, betreiben sie angeblich Propaganda. Diese Technik ist im Übrigen altbekannt: Die Propagandapartei dreht den Spieß einfach um und macht den Vorwurf, der ihr gemacht wird, kühl zum Vorwurf gegen andere. “Spiegelreflex” haben das kluge Köpfe genannt, die Mitte der 30er Jahre die Nazis analysierten.
- Wenn man diese Rolle umkehrt: Können Medien, vor allem auch vielleicht öffentlich-rechtliche Medien, denn nicht auch ein Bollwerk der Abwehr dieser Propaganda-Strategien sein? Oder ist das nur eine naive Hoffnung?
Sie sollten sich um entsprechende Aufklärung bemühen und das tun sie auch immer wieder mit zum Teil herausragenden journalistischen Leistungen. Klassische, saubere journalistische Arbeit ist das beste Rezept. Die Hauptaufgabe lautet, informationelle Versorgung für jede und jeden zur Verfügung zu stellen. Durch Nachrichten. Durch Hintergrund und Kontext. Auch durch Kritik. Das heißt, einen Beitrag zur Meinungsbildung leisten – aber nicht gleich die Meinungsbildung selbst übernehmen.
- Wenn man Ihr Buch liest, dann werden einem die Augen geöffnet für Phänomene und Strategien der Propaganda – aber einem wird auch „angst und bange“ und man fühlt sich verloren, weil man vergeblich nach Lösungen, nach Konter-Strategien, nach Hilfe im Kampf gegen diese Propaganda-Mechanismen sucht. Haben Sie sich diese für ein zweites Buch aufgehoben?
Ich habe darüber lange nachgedacht und auch mit dem Verlag und meinem Agenten beraten. Ich hielt es am Ende nicht für klug, solche Konzepte öffentlich zu machen. Das tun die Propagandaparteien ja auch nicht. Außerdem bin ich kein Freund vom salbenden Schlusskapitel, das besagt, es wird schon. Wenn wir uns in Europa umgucken, gibt es keinen einzigen Grund anzunehmen, dass das Phänomen der Propagandapartei einfach verschwinden wird. Dafür ist es unterm Strich viel zu erfolgreich.
- Machen Sie uns trotz aller Skepsis ein wenig Hoffnung!
Wir sind in der Lage, Propaganda zu entlarven. Dies gilt es zu tun. Dafür benötigt es aber einen mindestens genau so großen Masterplan, den die liberale Demokratie der Propaganda entgegenhält. Ich kann ihn noch nicht in der Praxis erkennen, aber er ist möglich. Und wenn die Demokratinnen und Demokraten diese Schlacht nicht schlagen wollen, welche dann?
Birand Bingül: Alles Propaganda! Wie Manipulation unsere Demokratie gefährdet.- Zürich: Atrium Verlag, 2023.

Birand Bingül, 1974 geboren, hat u.a. als Reporter für die Tagesschau gearbeitet und hat in den Tagesthemen der ARD kommentiert. Er war stellvertretender Unternehmenssprecher des WDR und schließlich Kommunikationschef der ARD. Gegenwärtig ist er Geschäftsführer von Deutschlands führender Content-Marketing- und PR-Agentur. Bingül ist zudem Autor mehrerer Bücher und gilt als erfahrener Kommunikations-Experte in Krisenzeiten.