70 Jahre Internationaler Frühschoppen – Ein Rückblick von Jürgen Bremer
Von Jürgen Bremer, Westdeutscher Rundfunk

Die politische Lage 1952 ist fragil. Der Korea-Krieg tobt, die Sowjetunion zieht den eisernen Vorhang zu, die USA zünden die erste Wasserstoffbombe im Pazifik, King George stirbt und Elizabeth II. besteigt den Thron Großbritanniens, Kanzler Adenauer organisiert die Westbindung der Bundesrepublik. Krieg und Frieden liegen eng beieinander. Die Menschen suchen Vergebung, Vergessen und Zerstreuung. Filme wie „Im weissen Rössl“, „Försterchristl“ oder „Cuba Cabana“ mit Zarah Leander und OW Fischer sind Kassenschlager. Aber die Flucht in die heile Welt kann weder die Sorge über die Politik, noch die Neugier auf die Welt verdrängen. Was geht dort vor? Sind wir wieder wer?
Der erste Sonntag dieses fragilen Jahres fällt auf den 6. Januar. Er entpuppt sich – wenn man Wetterchronik.net glauben mag – als extrem trüber Tag mit anhaltendem Regen und Temperaturen um 1 Grad Celsius. Umso angenehmer sitzt es sich zu Hause vor dem Radio oder in einem Studio des NWDR. Völlig undramatisch begrüßt dort um 11:30 Uhr ein 39jähriger Theaterkritiker und Radio-Mann das Publikum zum Auftakt einer neuen Diskussionsrunde. Es vermutet niemand, dass daraus ein sonntägliches Ritual werden sollte, das den Tagesablauf Millionen deutscher Haushalte nachhaltig veränderte: Der Internationale Frühschoppen mit 6 Journalisten aus 5 Ländern unter der Leitung von Werner Höfer.
Die Sendung teilt den bundesdeutschen Sonntag fortan in drei Zeitzonen: Frühschoppen, davor und danach. Der Polit-Talk wird für viele ein so beständiger Teil des Tages wie das Hochamt in der Kirche. Und so altbacken er manchmal wirkte, so wollte er doch Jahrzehnte nicht aus der Zeit fallen. Wenn Cross-Medialität das Schlagwort der Digitalzeit ist: alles alter Kaffee. Die erste crossmediale Sendung war der Frühschoppen. Zur Funkausstellung in Düsseldorf setzte Höfer am 30. August 1953 seine Runde nicht nur vor die Radio-Mikrofone, sondern auch vor die TV-Kameras. Seitdem läuft sie und läuft und läuft – linear in Radio und Fernsehen, non-linear in den Mediatheken. Seit 70 Jahren.
Den Sende-Ausschnitten der ersten Jahre sieht man mühelos an, dass das Medium in den Kinderschuhen daher kam. Weniger fernseh-affin wie das Frühschoppen-Studio wäre heute kaum vorstellbar: Nierentisch mit 6 eng aneinander gereihten Stühlen, Mikrofon, Weingläser, Aschenbecher, Zigaretten- und Zigarillo-Qualm. Nichts davor und nichts dahinter. Ein Design von schlichter, rustikaler Schönheit wie geschaffen für den Schwarzweiss-Bildschirm. Frauen kamen als Bedienung für den Weinausschank infrage, erst später und selten als Mit-Diskutantinnen. Dem Tropfen schenkten die Herren manchmal mehr Aufmerksamkeit als dem Moderator. Es soll sich um den „Maikämmerer Heiligenberg“ gehandelt haben, eine trockene Riesling-Spätlese aus der WDR-Kantine. Auch dort schon ein Bestseller. Für Abstinenzler gab es – um die weinselige Illusion nicht zu stören – Apfelsaft. Wie das Design des Studios, so auch das des Moderators, dessen Modebewusstsein in einer Brille mit üppiger schwarzer Fassung gipfelte, die das Gesicht wie zwei TV-Bildschirme der 50er Jahre umrahmte.
So schlicht das Setting, so simpel-raffiniert das Konzept. Ein paar Leute sitzen an einem Tisch, trinken mehr oder weniger Alkohol und lassen sich in entspannter Atmosphäre über die Weltlage aus. Fast ein idealtypischer Stammtisch der Zeit – aber mit intellektuellem Anspruch. Im Gespräch mit Thomas Gottschalk räumte Höfer einmal ein, dass ein TV-Gespräch, damals in der „Versuchszeit“ des Fernsehens, eigentlich kaum ein Erfolg zu werden versprach. Es gab Vorbilder wie „Meet the Press“ in den USA. Aber das war Höfer zu steif. Er wollte eine Diskussion in zwangloser Atmosphäre zustande bringen, locker. „Mit der einfältigen Idee namens Internationaler Frühschoppen“, gab er im Schweizer Fernsehen zu, „wollte ich es wissen“. Die Weltgeschichte sei niemals langweilig und er habe sie nicht langweilig überbringen wollen. Sein Ziel sei es gewesen, als „Anstoss-Erreger“ die Menschen mit Hilfe anspruchsvoller Gäste „argumentationsfähig“ zu machen. Das Konzept des Talks mit Wein und Rauch setzte sich durch, der einstige Theaterkritiker avancierte zum gefeierten Polit-Talker und TV-Hierarchen.
Für Millionen kam es gar nicht mehr infrage, einen Sonntags-Frühschoppen ausfallen zu lassen. Am Anfang versuchte Höfer einmal, über den Sonntag hinaus in den Urlaub zu fahren. Der Shitstorm war so groß, dass der Moderator dieses Experiment nicht mehr wiederholte. Ferien plante er nur noch so, dass er um 12 Uhr vor den Kameras sitzen und den Frühschoppen eröffnen konnte. Widrige Umstände wie ein Sturm über der Nordsee konnten Höfer, der auf Sylt fest steckte, zwar vom Studio abhalten, nicht aber davon, seine Diskussionsleitung per Telefon zu übernehmen.
In der Folge war es für bundesrepublikanische JournalistInnen ein Muss, von Höfer eingeladen zu werden. Sonst hatte man es nicht geschafft. Die Frühschoppen-Runde war der journalistische Ritterschlag. Das Fernseh-Lexikon hält fest: Zu den deutschen Stammgästen zählten publizistische Größen wie Rudolf Augstein, Henri Nannen, Marion Gräfin Dönhoff, Günter Gaus, Peter Scholl-Latour, Julia Dingwort-Nusseck oder Theo Sommer. Auch die ausländischen Gäste zählten zur Creme des Journalismus. Höfer war kein Aufwand zu groß, um die besten Gäste in sein Studio zu locken. Ein Flugticket von Washington oder Moskau war kein Hindernis. Und das deutsche Publikum war fasziniert, wenn in englischem, französischem oder gar russischem Akzent die Weltlage erörtert wurde.
Eine weite Anreise war aber keine Garantie dafür, dass Höfer mehr Redezeit zubilligte. Die brauchte er schließlich selber. Er hielt er sich auch als Moderator in den Debatten keinesfalls zurück und beanspruchte durchschnittlich 18 von 45 Minuten Sendezeit. Dabei war er ein strenger Diskussionsleiter, der zur Not auf die Pauke haute, wenn die Runde seiner Ansicht partout nicht folgen mochte. Nicht zuletzt deshalb nannte der „Spiegel“ den Frühschoppen 1959 die „Werner-Höfer-Schau“.
Mit dem Frühschoppen zeigte Höfer, wie bedeutend er das Medium für Demokratie und Gesellschaft einschätzte. Er wollte immer das zum Thema zu machen, was ist, was aktuell, was wichtig für die Republik und die Gesellschaft war. 1962 thematisierte er die „Spiegel-Affäre“, setze 1968 gegen massiven Druck aus der Politik durch, dass „Stern“-Chefredakteur Henri Nannen auftreten durfte, der gerade Bundespräsident Lübke „kleinkariert“ und eine „bedauernswerte Figur“ genannt hatte. Zur 1000. Sendung kam ein Politiker ins Studio: Bundeskanzler Willy Brandt gratulierte persönlich. 1967 erhielt Höfer einen Adolf-Grimme-Preis in Silber.
Die erfolgreiche Reihe brachte es auf 1874 Sendungen mit Werner Höfer. Dabei so skurrile Ausgaben wie 1953 am ersten Weihnachtstag mit dem „Internationalen Kindergarten“ und an Neujahr 1954 mit dem „Internationalen Politiker-Frühschoppen“. Durch den Frühschoppen berühmt wurde auch die sonore Stimme von Egon Hoegen, mit der er die Sendung „… mit sechs Journalisten aus fünf Ländern“ ankündigte.
Ein plötzliches Ende fand die Sendung im Herbst 1987. Der „Spiegel“ berichtete, dass Höfer 1943 im Zweiten Weltkrieg als junger Journalist die Hinrichtung des Pianisten Karlrobert Kreiten wegen Wehrkraftzersetzung positiv kommentiert hatte. Als sich Höfer trotz aller Bemühungen des WDR nicht zu einer eigenen Begründung seiner damaligen Haltung bewegen ließ, trennte sich der Sender von ihm und stellte das Format ein. Auf dem Sendeplatz startete eine Woche der Presseclub mit Gästen aus überwiegend deutschen Medien.
Der Sendetermin am Sonntag erwies sich für den Presseclub zunehmend als schwierig. Viele Sendungen fielen zum Leidwesen des Publikums aus, so dass phoenix 2002 dem damaligen Presseclub-Moderator und WDR-Intendanten Fritz Pleitgen den Vorschlag machte, den Klassiker Frühschoppen auf phoenix zu senden. Und wieder erwies sich das Konzept als unverwüstlich. Für phoenix holt der Frühschoppen immer noch die höchsten Einschaltquoten. So bleibt der Frühschoppen-Blick aus und mit der Welt ein moderner Klassiker aus der Frühzeit des Fernsehens, crossmedial in Radio, TV und Mediathek.