Lesenswerte Zeitgeschichte
Günter Peters‘ „Hundert Jahre Hörspiel- Geschichte und Geschichten“
Von Christoph Singelnstein (rbb)
Günter Peters zeichnet in seinem Buch „Hundert Jahre Hörspiel – Geschichte und Geschichten“ die Entwicklung des deutschsprachigen Hörspiels von den Anfängen bis heute nach. Der Autor verbindet historische Fakten, literarische Analysen und zahlreiche Hörspielbeispiele zu einem Überblick über ein oft unterschätztes Genre. Ein lesenswertes Werk für alle, die sich für Rundfunk-, Literatur- und Kulturgeschichte interessieren.
Wer sich für die Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts interessiert und gute Geschichten mag, der wird mit der Arbeit von Günter Peters seine Freude haben, selbst wenn er keine Hörspiele hört. Das Buch ist ein Wälzer, aber der Autor macht es seinen Lesern leicht, weil er es überschaubar strukturiert.
Teil I beschäftigt sich mit den Anfängen des Hörspiels und seine rasante Entwicklung in der Weimarer Republik bis zu den jähen Einschränkungen nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten.
Die ersten Produktionen waren Bearbeitungen vorhandener epischer oder dramatischer (überwiegend klassischer) Werke. Sie wurden live produziert. Bald erlaubten die technischen Möglichkeiten exklusive Stücke für das Radio. Am 24. Oktober 1924 sendet der Südwestdeutsche Rundfunkdienst unter der Leitung seines künstlerischen Leiters Hans Flesch das erste, exklusiv für das Radio aufgeführte Hörspiel “Zauberei auf dem Sender. Versuch einer Rundfunkgroteske”. Gleichzeitig gibt Peters einen Einblick in die Literatur-/Hörspieltheoretische Debatte unter Künstlern und Radiopionieren wie Hans Bredow, Bert Brecht, Alfred Döblin, oder Walter Benjamin, wie Rudolf Leonhard oder Alfred Braun. Der Abschnitt endet mit der Darstellung des abrupten Endes einer freien Kunst und eines freien Diskurses über die künstlerischen und gesellschaftlichen Möglichkeiten des Radios am Beginn des Jahres 1933. Die regionalen Rundfunkanstalten werden von den Nationalsozialisten aufgelöst, das Radio zentralisiert, die Verantwortlichen entlassen, eingesperrt und ins Exil getrieben. Die die bleiben, verdingen sich mit anderen Tätigkeiten oder versuchen, sich mit ‚unpolitischen‘ Arbeiten für den Reichsrundfunk über Wasser zu halten (Günter Eich, Peter Huchel). Der Rundfunk in Deutschland wird in kürzester Zeit von einem Ort gesellschaftlicher und künstlerischer Kommunikation zu einem reinen Propagandamedium.

Im Teil II beschreibt Peters den Neuanfang des Hörspiels nach der Befreiung bis in die 70-er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Einer Zeit, in der sich das Radio zunächst zum Leitmedium entwickelt und in dieser Rolle sukzessive vom Fernsehen abgelöst wird. Es wundert nicht, dass Wolfgang Borchert, Max Frisch und andere hier zunächst für die Auseinandersetzung über den Krieg und dessen Folgen, die Probleme der Rückkehrer, des Wiederaufbaus und den Fragen nach der Schuld stehen. Aber schon bald differenziert sich das Hörspielschaffen. Eine reiche Landschaft an sehr unterschiedlichen künstlerischen Herangehensweisen, dem kreativen Nutzen der Möglichkeiten der Radiotechnik entwickelt sich. Die Themen reichen von der inneren Reflektion der Figuren bis zu literarischer und tonaler Verarbeitung des gesellschaftlichen und politischen Diskurses in der Mitte des 20. Jahrhunderts im Zeichen von kaltem Krieg und deutscher Teilung. Folgerichtig widmet Günter Peters einen großen Abschnitt auch der Entwicklung des Hörspiels in der DDR, den Versuchen dortiger Künstler, Dramaturgen und Funktionären, trotz der eingeschränkten formalen und politischen Möglichkeiten, das Hörspiel als künstlerisches Genre im öffentlichen Raum zu entwickeln. Peters beschreibt die Arbeitsbedingungen ebenso deutlich, wie die künstlerische Qualität der unter diesen Bedingungen entstehenden Hörspiele und Feature.
Teil III schließlich umfasst die Entwicklung des Hörspiels bis in die Gegenwart. Mit zunehmender Bedeutung des Fernsehens, größerer Differenzierung der Gesellschaft, mit wachsender Individualisierung muss sich auch die Radiokunst neu erfinden. Das Spektrum erweitert sich. Es reicht nunmehr von literarischen Vorlagen bis zu tonkünstlerischen Kompositionen, vom literarischen ‚Bild‘ bis zum Abbild (O-Tonhörspiele, Feature). Namen wie Erwin Wickert, John Cage oder FM Einheit machen die Breite des Hörspiels deutlich. Der Beginn digitaler Produktion und Verbreitung beeinflusst den hörspieltheoretischen Diskurs und findet im Buch seinen Niederschlag. Teil III endet mit „Schlaglichter(n) auf das Hörspiel heute“. Günter Peters wirft noch einen Blick auf die Folgen von sich verändernden Medienunternehmen, auf die Möglichkeiten des Internets für produzierende Hörer und hörende Produzierende.
Günter Peters schließt sein Sachbuch in „Sieben Thesen und (m)ein Kanon“ mit einer Liebeserklärung an das Hörspiel.
Der Autor gibt dem Buch zu Recht den Untertitel ‚Geschichte und Geschichten‘. Denn Günter Peters beschränkt sich nicht auf eine theoretische Abhandlung, ist nicht zwanghaft um Vollständigkeit bemüht, (über)fordert den Leser nicht mit Fakten und (wissenschaftlichen) Details. Er zieht die großen Linien. Weil auch solche Linien nicht immer ununterbrochen sind, teils parallel verlaufen, gibt es genaue Querverweise auf spätere Entwicklungen oder frühere Ansätze. Er hat den ganzen deutschsprachigen Hörspielkosmos im Blick, also Deutschland, Österreich, die Schweiz, die Bundesrepublik und die DDR. Dieser ‚Hörspielkosmos‘ ist für den Autor keine Blase. Das Hörspiel und dessen Protagonisten stehen immer in einem gesamtgesellschaftlichen, in einem kunst- und kulturgeschichtlichen Zusammenhang. Die künstlerische Produktion ist geprägt durch die Diskurse der jeweiligen Gegenwart. Es gelingt Peters, diese Auseinandersetzungen und Prägungen lebendig nachzuzeichnen. Auch dies ein Grund, warum beim Lesen keine Langeweile aufkommt.
Peters benutzt eine unprätentiöse Sprache, spürbar darum bemüht, bei den Lesenden Interesse zu wecken und zu halten. Peters wertet nur selten, stellt vielmehr unterschiedliche künstlerische Herangehensweisen und Positionen nebeneinander, erzeugt so intellektuelle Spannung, die es erlaubt, selbst zu werten. Er vollzieht Diskurse in einer Weise nach, die nicht selten zu Aha-Erlebnissen führen. Peters lässt uns teilhaben. Das Buch ist gefüllt mit Nacherzählungen und Ausschnitten (bis hin zur Vollständigkeit) vieler guter Hörspiele. So wird aus dem Sachbuch eine Art Almanach des Hörspiels. Es führt dazu, dass das Buch nicht in einem Stück gelesen werden muss. Ebenso gewinnbringend und vergnüglich ist das Lesen einzelner Anschnitte oder Kapitel.
Und noch einen Mehrwert bietet der Autor, wissend darum, dass Hörspiele eben gehört werden sollten: Die ARD hat mit der Podcast-Serie „100 aus 100: die Hörspiel-Collection“ eine Sammlung von Hörspielen von den Anfängen bis in die Gegenwart herausgebracht. Und wo immer es sich anbietet, verweist das Buch darauf, eröffnet die Möglichkeit, schnell und auf einfachem Weg die Stücke auch zu hören. Ausschnitte von Stücken, die dort fehlen, stellt der Verlag zusätzlich auf seine Website.
Hörspiele sind Teamproduktionen. Günter Peters würdigt deshalb neben den Autoren ebenso die Techniker, Dramaturginnen, Lektoren, Regisseur, Schauspielerinnen, Komponisten und Musikerinnen, Rundfunkpolitiker und -verantwortliche, wo immer diese einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung des Genres oder zur Qualität des Hörspiels geleistet haben.
Fazit: Wer Spaß an Literatur, an intellektuellem Diskurs hat, sich für Zeit- und Rundfunkgeschichte interessiert, der sollte sich das Buch auf den Nachttisch legen und immer mal wieder darin lesen.
Nachtrag: Der Umgang mit dem Hörspiel in der DDR ist für mich maßstabsetzend für viele andere Bereiche in der immer wieder konstatierten Schwierigkeit des deutsch-deutschen Zusammenwachsens. Peters verharmlost nicht, dass der Rundfunk der DDR zuallererst ein Propagandainstrument war. Das hindert ihn aber nicht daran, zu sehen und ausführlich darzustellen, welche inhaltlichen und künstlerischen Leistungen dort erbracht wurden, wie Spielräume durch Im Rundfunk angestellte genutzt wurden, in Teilen nicht ohne Risiko für die Beteiligten Künstler und Funktionäre. Anders ausgedrückt, Peters würdigt hier die Lebensleistung derer, die im Osten unter schwierigen Bedingungen ihre Arbeit gemacht haben ohne zu Heroisieren aber auch ohne pauschal abzuwerten.
Mehr:
„75 Jahre ARD“ – Eine Serie der „Historischen Kommission der ARD“